Arnold Schölzel in der UZ vom 28.05.2021

Werner Seppmann, der am 12. Mai für viele seiner Genossen und Freunde überraschend starb, sprach selten über seinen Lebenslauf. Dabei war der für die alte Bundesrepublik durchaus außergewöhnlich – aber Persönliches hatte für ihn hintenanzustehen. Was für ihn einschloss, in politisch-theoretischen Auseinandersetzungen, wenn es um die Sache ging, auch sehr persönlich zu polemisieren. Die Sache, das war für ihn der Streit um einen substanzvollen historischen und dialektischen Materialismus, das heißt einen, der nicht leer von Empirie war und empirische Daten ohne marxistische Begriffe für blind hielt.

Sein Weg begann, erzählte er einmal, mit früh erwachtem Interesse für Geschichte – in der „Volksschule“. Er war 17 oder 18, als der Protest gegen den US-Völkermord in Vietnam und die Notstandsgesetze Hunderttausende auf die Straßen trieb.

Er erlernte das Bäckerhandwerk und holte auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nach, studierte Sozialwissenschaften und Philosophie, arbeitete eng mit dem marxistischen Sozialwissenschaftler Leo Kofler (1907 bis 1995) an der Universität Bochum zusammen. Dort promovierte er im Januar 1992 mit der Arbeit „Struktur und Subjekt. Zur Begründungsproblematik eines kritischen Marxismus“. Eine akademische Karriere konnte er schon wegen des Titels vergessen. Die dort genannten Begriffe wurden aber der Leitfaden zu seiner unglaublich umfangreichen Buch- und Artikelproduktion. Es ging ihm um ein Grundproblem des historischen Materialismus, vielleicht das schwierigste überhaupt: In welchem Verhältnis stehen Entwicklung objektiver und subjektiver Faktoren in der Gesellschaft zueinander? Speziell: Wie entsteht Klassenbewusstsein? Und vor allem – hier wurde Werner Seppmann im heutigen Marxismus der Fachmann schlechthin: Was verhindert das Entstehen von individuellem Selbstbewusstsein, hemmt die Erkenntnis sozialer Gegensätze, zerstört Ansätze von Vernunft in der Gesellschaft, schwächt die Arbeiterklasse und die kommunistische Partei?

Seine Antwort war umfassend, lässt sich aber vielleicht so zusammenfassen: Die von der Frankfurter Schule aufgebrachte und von der postmodernen Philosophie zum Dogma erhobene These, dass Medien, die „Kulturindustrie“ das Bewusstsein ihrer Konsumenten total beherrschen, lehnte er ab. Er räumte ein: Die Verbreitung von Information gleicht sich der Unterhaltung an, geliefert werde eine Pseudokonkretheit, gebe es eine „Krise der Erfahrung“ (Walter Benjamin), aber es sei falsch zu behaupten, die mediale Manipulation sei die treibende Kraft der Desorientierung. Seine Gegenthese: Die Arbeit präge immer noch die entscheidenden Bilder. Widerspruchserfahrungen würden allerdings erst wirksam im Zusammenhang mit der Bildung von Klassenbewusstsein und mit praktischen Veränderungserfahrungen.

Er verschloss nicht die Augen davor, dass sich dieser Zusammenhang abschwächte, sich ein „heimatloser Antikapitalismus“ in der Klasse ausbreitete. 1995 und 2011 legte er mit dem Band „Dialektik der Entzivilisierung. Krise, Irrationalismus und Gewalt“ eine gültige Untersuchung dieser Grundtendenz im Imperialismus vor. Es war Zufall, dass das Erscheinen der zweiten Auflage mit dem Auffliegen des NSU zusammenfiel. In Seppmanns Buch war nachzulesen, warum eine faschistische Bande ein zwangsläufiges Ergebnis war.

Sein Hauptinteresse aber galt der Entwicklung der Arbeiterklasse. Die Verkündung ihres Verschwindens war für ihn Teil der Verhinderung von Widerspruchserfahrung. So leitete er zusammen mit Ekkehard Lieberam das „Projekt Klassenanalyse@BRD“ der Marx-Engels-Stiftung Wuppertal, deren Vorsitzender er in den 2000er Jahren wurde, bis er 2009 aus der DKP austrat: Er sah im damaligen Feuilleton der UZ keine Möglichkeit mehr, sich dort für eine Kultur, die dem „Vandalismus der bürgerlichen Reaktion“ (Rosa Luxemburg) entgegentrat, einzusetzen.

Die Gründlichkeit seines Ansatzes erweist sich mit jedem imperialistischem Krieg, mit jedem Gewaltausbruch. Erst auf dem Niveau der Analyse, das Werner Seppmann vorgegeben hat, stellt sich die Frage nach alternativen Bewusstseinsformen und nach organisierter Durchbrechung des scheinbar übermächtigen Manipulationszusammenhangs. Einer seiner Leitsätze war: „Nach der Krise beginnen die Kämpfe.“

Klicken Sie auf den unteren Button, um den Inhalt von www.unsere-zeit.de zu laden.

Inhalt laden

Autoren

0
Warenkorb