Das Leben eines großen Marxisten:
Aijaz Ahmad (1941-2022)

Aijaz Ahmad (1941-2022) starb am 9. März zu Hause, umgeben von seinen Büchern und Schriftstücken, geborgen in der Wärme seiner Kinder und Freunde

Aijaz Ahmad

Geboren in Muzaffarnagar in Britisch-Indien las Aijaz bereits in jungen Jahren viel und ließ somit seinen Geist schon früh die Welt außerhalb der qasba seiner Kindheit erkunden. Sein Vater versorgte ihn mit kritischem Schriftgut, das ihm half, die Welt auch außerhalb der Doab-Region der indischen Gangesebene sowie jenseits der Grenzen des kapitalistischen Systems zu verstehen. Schon in jungen Jahren träumte Aijaz Ahmad von Internationalismus und Sozialismus. Er studierte im pakistanischen Lahore, wohin seine Familie nach der Teilung Indiens 1947-48 ausgewandert war; sein Studium fand aber nicht nur in den Auditorien der Universität statt, sondern vor allem auch in Cafés und Einrichtungen der politischen Organisationen vor Ort. Dort lernte Aijaz die klügsten Köpfe der Urdu-Literatur kennen, die ihn sowohl in der Poesie als auch in Politik ausbildeten; bei Treffen der politischen Parteien begegnete er der Tiefenwirkung des Marxismus und vor allem auch einer schrankenlosen Sicht auf die Welt, die ihn für den Rest seines Lebens in ihren Bann zog. Inmitten der von links motivierten politischen Unruhen in Pakistan geriet Aijaz ins Visier der Behörden, weshalb er das Land nach einigen Jahren in Richtung New York City (Vereinigte Staaten) verließ.

Die beiden Leidenschaften von Aijaz Ahmad – Poesie und die Politik – kamen in New York zu weiterer Entfaltung. Er vermittelte seine große Liebe zur Urdu-Literatur den berühmtesten Dichtern seiner Zeit (wie Adrienne Rich, William Stafford und W.S. Merwin), indem er ihnen Ghalib rezitierte, mit ihnen Wein trank und dann beobachtete, wie sie aus Ghalibs Sprache und seinen Erklärungen die Bedeutung der Gedichte erschlossen. Diese innovative Arbeit manifestierte sich in Aijaz’ erstem Buch, Ghazals of Ghalib (1971). Zur gleichen Zeit gab Aijaz zusammen mit Feroz Ahmed das Pakistan Forum heraus. Diese eindrucksstarke Zeitschrift dokumentierte die Gräueltaten in Südasien und legte dabei besonderes Augenmerk auf die Militärdiktatur von Yahya Khan (1969-1971) sowie auf das Wirken von Zulfiqar Ali Bhutto (1971-1977). Über Pakistan schrieb Aijaz hauptsächlich mit Bezug auf die Aufstände in Ostpakistan (das 1972 zu Bangladesch wurde) und in Belutschistan. Gleichzeitig begann er außerdem für sozialistische Zeitschriften wie etwa Monthly Review, mit der er in den folgenden Jahrzehnten eng zusammenarbeiten sollte, über die Politik in Südasien zu schreiben.

In den 1980er Jahren kehrte Aijaz Ahmad nach Indien zurück, ließ sich in Delhi nieder, und unterrichtete an verschiedenen Hochschulen der Stadt (unter anderen an der Jawaharlal Nehru University). In dieser Zeit widmete er sich regelmäßig der Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, was zu umfangreichen Arbeiten in drei verschiedenen Bereichen führte: der Postmoderne und des Postkolonialismus, der Hindutva-Bewegung und der Liberalisierung sowie den Möglichkeiten einer neuen Weltordnung rund um die Vereinigten Staaten und der von den USA gesteuerten Globalisierung.

Auf Grundlage seiner großen Wertschätzung für Kultur und Literatur entwickelte Aijaz außerdem eine überzeugende Analyse der Methodik, mit der Kulturen der Dritten Welt von den Universitäten der Metropolen behandelt und bewertet werden. Diese Arbeit weitete Aijaz zu einer stark negativen Bewertung der Postmoderne und des Postkolonialismus aus. Das geschah unter anderem auf Basis eingehender kritischer Lektüre der Arbeiten des führenden marxistischen Literaturkritikers, Fred Jameson, und des Werkes von Edward Said, der als wesentlichster Opponent des Orientalismus gilt. Im Mittelpunkt von Aijaz‘ Kritik an Postmoderne und Postkolonialismus stand deren Ablehnung des Marxismus. „Der Postmarxismus“, so sagte Aijaz mir, „ist nichts anderes als der Prä-Marxismus, eine Rückkehr zum Idealismus, über den Marx hinausging“. Hintergrund dieser Bemerkung ist das sehr einflussreiche Buch von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy (1985), das den italienischen Kommunisten Antonio Gramsci als postmodernen Denker präsentiert. In diesem Kontext begann Aijaz dann auch seine eigene eingehende Lektüre von Gramsci. Die sich daran anschließenden Schriften wurden in Aijaz‘ Klassiker, In Theory: Classes, Nations, Literatures (Verso und Tulika, 1992), veröffentlicht. Es ist schwierig, in wenigen Sätzen zu beschreiben, welchen Einfluss dieses Buch auf Gelehrte in der ganzen Welt hatte. Als der Marxismus unter Beschuss geriet, war Aijaz einer der wenigen Denker, die eine differenzierte Darstellung nicht nur seiner Relevanz, sondern auch seiner Notwendigkeit lieferten. „Postkolonialität ist, wie die meisten Dinge, auch eine Frage der Klasse“, schrieb er mit der Schärfe, die seine Prosa auszeichnete. In Theory ist ein Buch, das eine ganze Generation lehrte, wie man über Theorie denkt und schreibt. Mit diesem Werk und seinen Essays, die weiterhin im Monthly Review veröffentlicht wurden, lieferte Aijaz eine wichtige Verteidigung der marxistischen Tradition. „Marx ist grenzenlos“, schrieb Samir Amin – eine Aussage, die Aijaz mit mir diskutierte, als wir ein Buch mit Samirs späteren Schriften, zu dem er ein Vorwort geschrieben hatte, herausgaben. Grenzenlos deshalb, weil auch die Kritik des Kapitalismus unvollständig bleibt, solange der Kapitalismus nicht überwunden ist. Marx abzulehnen, bedeutet daher, das mächtigste Instrumentarium abzulehnen, das zur Erforschung des kapitalistischen Systems und seines Einflusses auf die Menschheit geschaffen wurde.

 

„Jedes Land bekommt den Faschismus, den es verdient“, ist ein weiterer Satz, der in Aijaz‘ Schriften aus dieser Zeit zu finden ist. Er schrieb ihn, als seine Lektüre von Gramsci ihm half, den Aufstieg der Hindutva-Bewegung in der Zeit kurz vor und nach der Zerstörung der Babri Masjid 1992 zu beleuchten. Eine ganze Generation in Indien, die durch die rasante Beschleunigung der beiden Phänomene, Liberalisierung und Wachstum der Hindutva-Bewegung, verwirrt war, suchte Zuflucht in Aijaz‘ klarer Prosa, die den Charakter des Aufstiegs der indischen harten Rechten deutlich machte. Diese Schriften, von denen viele in Lineages of the Present Political Essays (Tulika, 1996) gesammelt sind, beschreiben in präziser theoretischer und historischer Sprache das Wachstum der Rechten in seiner Heimat. Diese Problematik hat Aijaz nie losgelassen und im letzten Jahrzehnt seines Lebens las er daher mit großer Sorgfalt viele dieser von den Rechten verfassten Werke. Die Früchte dieser Lektüre verarbeitete er in den Wellek-Vorlesungen, die er 2017 an der University of California (Irvine) hielt und die von LeftWord Books gesammelt und veröffentlicht wurden. In einem dieser Beiträge verwies Aijaz auf die Härte im Inneren unserer eigenen Kultur – verwurzelt in der Erbärmlichkeit des Kastensystems und in der Hierarchie des Patriarchats. Das ist es, worauf er mit dem Aphorismus abzielte, dass jedes Land den Faschismus bekommt, den es verdient. Um die Wurzeln der Hindutva-Bewegung zu verstehen, musste man die Wurzeln jener Härte der eigenen Kultur begreifen, die Art und Weise, wie die Privatisierungsagenda die Arbeitslandschaft noch mehr verrohte und die Bedingungen für den Aufstieg der politischen Hindu-Rechten schuf. Diese Schriften von Aijaz, von denen viele in einer Zeit großer politischer Verwirrungen in ganz Indien als Vorträge gehalten wurden, sind nach wie vor Klassiker. Sie müssen gelesen und wieder gelesen werden, weil wir ohne Atempause mit Angriffen der faschistischen Kräfte auf die Menschenwürde konfrontiert werden. Aijaz gab uns Zuversicht, als Finsternis die Hoffnung fast völlig verschluckt zu haben schien.

Denn dies waren harte Jahre gewesen. Indien liberalisierte sich 1991. Im selben Jahr begannen die Vereinigten Staaten mit einem grausamen Angriff auf den Irak. 1992 zerstörten Anhänger der rechtsextremen Szene dann eine Moschee aus dem sechzehnten Jahrhundert in Ayodhya. Zwei Jahre später, 1994, wurde die Welthandelsorganisation gegründet. Die Ressourcen des Sozialismus waren weitgehend erschöpft. In diesem Jahrzehnt wurden Aijaz‘ Schriften und Reden – oft in kleinen Zeitschriften und Publikationsorganen von Parteien veröffentlicht – weit verbreitet. Diejenigen von uns, die in Delhi waren, hatten das Glück, ihm regelmäßig zuhören zu können, nicht nur an diesen öffentlichen Orten, sondern auch an Stätten wie Kuttys Teehaus im Nehru Memorial Museum and Library – wo er ein Senior Fellow war – und bei den vielen Veranstaltungen der Students‘ Federation of India, an denen er als Redner teilnahm.

 

Als Arundhati Roy 1997 ihren Roman The God of Small Things veröffentlichte, las Aijaz ihn mit großer Sorgfalt und Begeisterung. Ich hatte zu dieser Zeit ein Treffen mit N. Ram und Aijaz, bei dem die beiden über das Buch sprachen – und Ram bat Aijaz, für Frontline darüber zu schreiben. Der daraus entstandene Essay – Reading Arundhati Roy Politically – ist ein Juwel der Literaturkritik, das merkwürdigerweise weder in Aijaz‘ Aufsatzsammlungen noch in Büchern über Arundhatis Werk veröffentlicht wurde. Mit diesem Essay begann auch Aijaz‘ lange Beziehung zu Frontline, die bis zum Ende seines Lebens andauerte. Aijaz schrieb viele lange Artikel, in denen er die Leser auf die Ereignisse und Verhältnisse in der Welt aufmerksam machte, insbesondere auf die verheerenden Geschehnisse nach dem 11. September, die Kriege in Afghanistan und im Irak, die in Syrien und Libyen, aber auch auf das Wachstum der Linken in Lateinamerika, angeführt von einem Mann, den wir alle bewunderten: Hugo Chávez. Diese Essays, die erneut weite Verbreitung fanden, bildeten die Grundlage für Aijaz‘ Buch Iraq, Afghanistan, and the Imperialism of Our Time (LeftWord, 2004) (LeftWord, 2004).

Mitte der 1990er Jahre, nach dem Zusammenbruch der UdSSR, wurde deutlich, dass der Marxismus im Kampf der Ideen unterlegen blieb. Der Neoliberalismus hielt nicht nur in das Vokabular der Populärkultur Einzug (mit Individualismus und Habgier im Mittelpunkt), sondern war mittels Postmoderne auch in die intellektuelle Welt vorgestoßen. Das Fehlen eines ernsthaften linken Verlagsprojekts hat uns alle konsterniert und deshalb wurde in dieser Zeit –im Jahr 1999 –LeftWord Books in Delhi gegründet. Aijaz war einer der ersten Autoren des Verlags – er schrieb einen brisanten Essay über das Kommunistische Manifest, der in dem von Prakash Karat herausgegebenen Buch A World to Win publiziert wurde. Aijaz war Mitglied des Redaktionsausschusses von LeftWord Books und hat uns in den vergangenen Jahrzehnten bei der Zielsetzung unserer Arbeit unterstützt. Gegen Ende von Aijaz‘ Tagen verbrachten Sudhanva Deshpande, Mala Hashmi und ich einige Tage mit ihm. Wir führten ein langes Gespräch über sein Leben und sein Werk. Dieses Interview wurde schließlich als Nothing Human is Alien to Me (LeftWord, 2020) veröffentlicht. In seinen letzten beiden Lebensjahren plante Aijaz dann, eine Reihe von Einführungen in die politischen Schriften von Marx zu verfassen. „Marx wird oftmals zu sehr mit seiner Arbeit zur Ökonomie in Verbindung gebracht, die wichtig ist“, sagte er, „aber die politischen Schriften sind der Schlüssel zum Verständnis seiner revolutionären Vision“.

 

Wir haben eine Reihe von Interviews über einige dieser Texte geführt (über das Kommunistische Manifest, den ersten Teil von Die Deutsche Ideologie, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte und zu Marx‘ Schriften über die Pariser Kommune); wir werden diese Texte in die von ihm erdachten Einleitungen umwandeln und ein Buch mit seinen Schriften über Marx zusammenstellen.

2009 gründeten Prabir Purkayastha und andere Newsclick, ein webbasiertes Nachrichtenportal, um die wichtigen Themen unserer Zeit zu diskutieren. Aijaz war einer der ersten Gäste und blieb auch weiterhin eine regelmäßig gehörte Stimme im Newsclick-Kanal. Er erläuterte mit präzisen Details die Kriege in Westasien und Nordafrika sowie die politischen Entwicklungen in den Vereinigten Staaten, China, Südamerika und Europa. Diese Gespräche sind ein Archiv unserer Zeit. Sie bringen aber auch Aijaz‘ Witz zum Vorschein, und sein spitzfindiges Lächeln, das auf einen scharfen Kommentar aufmerksam macht. Sowohl durch Aijaz‘ Frontline-Kolumnen als auch seine Newsclick-Interviews lernte eine Generation von Menschen nicht nur viel über dieses oder jenes Ereignis, sondern auch, wie man die Welt als strukturiertes Ganzes betrachtet, und dass man die Ereignisse im Zusammenhang mit den großen Prozessen unserer Zeit verstehen sollte. Jede dieser Interventionen war wie ein Seminar, eine Zusammenkunft, um zu lernen, wie man denken kann, aber auch eine Gelegenheit zu erfahren, was geschehen ist.

Aijaz lehrte an Universitäten in Indien, Kanada und den Vereinigten Staaten. Er hielt Vorträge an unzähligen Orten, von den Philippinen bis nach Mexiko. Gegen Ende seines Lebens wurde er Senior Fellow am Tricontinental: Institute for Social Research, wo er eine neue Generation von Intellektuellen über die weiten Horizonte des Marxismus in Kenntnis setze. Er war außerdem bestrebt, einen Teil seiner Zeit für die Volksbildung aufzuwenden, um das Vertrauen der neuen, heranwachsenden Intellektuellen in unseren langfristigen Kampf der Ideen zu stärken.

Wenn jemand wie Aijaz uns verlässt, bleibt seine Stimme in unseren Ohren. Sie wird uns noch lange Zeit begleiten.

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